Ein Blogartikel von Nicole Kreye, Aquarellakademie 📓
Ich gebe es ehrlich zu:
Früher habe ich viel nach Fotos gemalt. Einfach, weil es praktisch war. Doch je öfter ich draußen unterwegs bin, desto klarer wird mir: Das echte Leben lässt sich nicht einfangen – nicht in einem Bild, nicht in einem Schnappschuss. Aber man kann es erleben. Und genau darum geht es beim Urban Sketching.
Warum vor Ort malen mehr berührt als jedes Foto
Wenn ich vor Ort sitze, erlebe ich den Ort mit allen Sinnen: Ich rieche den Kaffee von nebenan, höre das Lachen der Passanten, spüre die Sonne auf der Haut oder den Wind im Gesicht. Ich sehe Farben, die auf keinem Foto so leuchten. Ich nehme Bewegung wahr, Geräusche, Lichtveränderungen. Und all das fließt in mein Bild.
Das Foto hat keine Seele
Beim Zeichnen nach Foto ist alles gleich wichtig – die Mülltonne hinten links genauso wie das Fenster vorne rechts. Aber live vor Ort? Da entscheide ich intuitiv, was zählt. Ich nehme selektiv wahr, was mich wirklich berührt. Ich lasse Dinge weg, vereinfache, betone. Und genau das macht den Unterschied.
Vor Ort zu skizzieren heißt: Du interpretierst. Du erzählst nicht die Wahrheit – du erzählst deine Sicht auf die Welt.
Malen mit Gefühl
Ich weiß, es klingt vielleicht etwas esoterisch, aber: Ich spüre, ob ein Bild live entstanden ist. Es hat mehr Tiefe, mehr Energie, mehr Gefühl. Und es erinnert mich viel stärker an den Moment als jedes Foto. Ich weiß noch, wie die Bank sich angefühlt hat, auf der ich saß. Ich erinnere mich an das kleine Gespräch mit dem älteren Herrn, der neugierig über meine Schulter geschaut hat. An die Kinder, die mir Fragen gestellt haben. Das gehört alles mit dazu.
Der Ort spricht mit
Urban Sketching ist auch eine Einladung zur Begegnung: mit dem Ort, mit den Menschen, mit sich selbst. Menschen kommen vorbei, fragen nach, erzählen Geschichten. Und plötzlich bist du nicht nur Zeichner:in – du bist Teil des Geschehens. Das macht etwas mit dir.
Tipps aus der Praxis
- Mach ruhig auch mal ein Foto – als Ergänzung. Es hilft, den besten Blickwinkel zu finden oder Details nachzusehen.
- Aber versuche, so viel wie möglich vor Ort zu zeichnen. Der Moment formt dein Bild.
- Du musst nicht alles erfassen. Skizziere das, was dich anspricht. Reduziere. Übertreibe. Lass weg.
- Genieße es – und atme zwischendurch mal tief ein.
Fazit: Zeichnen ist Begegnung
Urban Sketching ist für mich mehr als Technik.
Ich liebe es. Ich liebe die Begegnungen, die Erinnerungen, die Wetterkapriolen, den vollen Rucksack und den vergessenen Pinsel.
Es ist Achtsamkeit, Kontakt, Beobachtung, ein bisschen Abenteuer. Es ist langsamer als ein Foto – aber so viel lebendiger. Und jedes Bild wird zu einem kleinen Erinnerungsspeicher: für das, was war, und das, was du dabei gespürt hast.